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09.07.2021

Museumssnack

Nicht nur unsere Ausstellungen bergen Schätze, die interessante Geschichten erzählen. Auch in unseren Depots stößt man immer wieder auf spannende Objekte, die zeigen, wie sehr sich manchmal auch die Einstellungen zu den fundamentalsten Dingen verändern. So etwa dieser Kinderwagen, der um 1910 über die Straßen Celles geschoben wurde und nun vom Museum bewahrt wird, bis er irgendwann einmal wieder in einer Ausstellung zu sehen sein wird. 

Kinderwagen

Heute gehört der Kinderwagen zu den zentralen Anschaffungen werdender Eltern. Das Sortiment ist dabei so vielseitig, wie die Einsatzmöglichkeiten und Ausstattungen. Wer schon einmal einen Kinderwagen gekauft hat, weiß, wie schnell man von der Menge überfragt ist und Beratung benötigt. Denn in erster Linie geht es um die Frage, wie man mit einem Kind mobil sein kann. Aber am Ende geht es um nicht weniger, als dem eigenen Kind das Beste hinsichtlich Komfort und Gesundheit zu bieten.
Vor dem 19. Jahrhundert gibt es jedoch kaum Kinderwagen. Lediglich Einzelstücke, besonders aus adeligen und gutbetuchten Haushalten, sind bekannt. Dennoch mussten auch damals Kinder, die noch nicht selbst gehen konnten, im Alltag transportiert werden. Die Lösungen waren pragmatisch: Entweder man trug sie einfach oder setzte sie zum Beispiel in eine Schubkarre. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Siegeszug des Kinderwagens.

Kinderwagen

Wer den Kinderwagen erfunden hat, ist bis heute umstritten. Wahrscheinlich gab es nicht den einen Erfinder, sondern verschiedene Personen entwickelten bekannte Transportmöglichkeiten weiter. Sicher ist, dass Charles Burton 1852 in London die erste Fabrik für "Perambulatoren" gründete. Diese ersten Kinderwagen wurden bereits geschoben, besaßen drei Räder und das Kind blickte in Fahrtrichtung. Sie ähnelten stark den heutigen Sportwagen. Burton setzte allerdings nicht aus Sportlichkeit auf drei Räder, sondern weil vierrädrige Fahrzeuge in England nicht auf Fußgängerwegen unterwegs sein durften. Fast zeitgleich entwickelte sich das sächsische Zeitz bei Dresden zum Zentrum der deutschen Kinderwagen-Produktion. In der dortigen Produktion arbeiteten aufgrund der hohen Nachfrage bereits in den 1870er Jahren mindestens 750 Arbeiter und Arbeiterinnen.

Kinderwagen

Doch warum wuchs die Nachfrage nach Kinderwagen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Dafür gibt es wie immer viele Gründe. Zum einen fällt die Erfindung des Kinderwagens in eine Zeit, in der die Kindheit als eigenständige Lebensphase entdeckt wurde und sich besonders bürgerliche Familien vermehrt der kindgerechten Erziehung zuwandten. Dies spiegelte sich in Kinderkleidung, Kinderzimmer, Spielzeug und spezielle Möbel für Kinder, zu denen im weiteren Sinne auch der Kinderwagen zählt. Im Grunde - das sieht man an unserem Kinderwagen - funktionierten sie nicht anders als Schubkarren. Aber man hatte doch andere Ansprüche an sie. Sie sollten sicherer, sauberer und gepolstert sein. Sie mussten Schutz vor dem Wetter bieten und Blickkontakt zum Kind ermöglichen. Kinderwagen spiegeln also eine veränderte Beziehung zu den eigenen Kindern.

Kinderwagen

Zum anderen entwickelte sich langsam die Medizin, wie wir sie heute kennen. Dazu zählt auch die Kindermedizin. Die Kinderärzte jener Zeit setzten sich auch mit dem Transport der Kinder auseinander. Üblich waren etwa Mäntel, die nicht nur die Trägerin wärmten, sondern zugleich das Kind vor der Brust stabilisierten, sodass es ähnlich wie in heutigen Tragetüchern getragen werden konnten. Während das Tragen heute immer mehr als Ideal in Mode kommt, waren die Kinderärzte vor 100 Jahren überzeugt, dass getragene Kinder schief wachsen würden. Deswegen sollten sie in den ersten drei Monaten ausschließlich liegen. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte man daher auch Kinderwagen, in denen die Säuglinge liegend transportiert werden konnten.
Und auf noch ein Weise schufen die Ärzte den Bedarf an Kinderwagen. Lange Zeit galt: Kinder in den ersten Monaten sollten Sonnenschein und der frischen Luft auf keinen Fall ausgesetzt werden. Nicht ganz unsinnig, wenn man sich vor Augen führt, dass besonders die Luft in Städten durch immer mehr Schornsteine von immer mehr Fabriken verschmutzt wurde. Aber im Zuge der Lebensreform, die die Menschen zur Erholung aus den Großstädten in die Natur trieb, kam der Spaziergang mit dem Kind an der frischen Luft in Parks und auf dem Land in Mode.

Und schließlich fand am Ende des 19. Jahrhundert, ausgehend von der Eisenbahn, eine zunehmende Mobilisierung der Menschen statt. Sind wir von Natur aus eher immobile Rudeltiere statt mobiler Herdentiere, erfuhr die Mobilität nun eine äußerst positiven Ruf. Alles und alle mussten mobil und immer schneller sein, solang diese Mobilität bequem war. Ein Kind zu schieben war deutlich bequemer als es zu tragen. Zudem konnte man Kinderwagen windschnittig oder nach dem Vorbild von Autos designen. Und bereits während der 1920er Jahre experimentierte man mit Elektroantreiben sowie Hybriden aus Kinderwagen und Fahrrädern, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.

Heute sind der Spaziergang mit dem Kinderwagen und die Fahrradtour mit Fahrradanhänger etabliert. Gleichzeitig feiert das Tragen seit einigen Jahren ein Revival, weil es - ganz anders als vor gut 100 Jahren - als physiologisch und psychologisch ideal gilt. Gleichgeblieben ist allerdings, dass die Frage, wer Scheibt oder Trägt, viel über familiäre Rollen aussagt. Vor rund 100 Jahren galt: Dem Mann sein Motorwagen, der Frau ihr Kinderwagen. Heute sieht man auch immer mehr Männer mit Kinderwagen oder Tragetuch. Die traditionellen Rollen brechen auf, worauf sich auch die Hersteller von Kinderwagen immer mehr einstellen.